Der Umgang mit Standards, Regeln und Vorgaben als Hilfsmittel oder zum Ausleben der Macht

Die Situation:

Seit vielen Jahren begleitet mich der Umgang mit Standards. Das Wort wird - je nach Hierarchie und maximaler Zentralisierung - als Machtinstrument genutzt, um persönliche Ambitionen und falsch verstandenen Ehrgeiz umzusetzen. Und das ist nicht so, dass es ein paar sind, sondern dass es leider deutlich häufiger vorkommt.

Wie muss man sich das vorstellen: Unabhängig der Firmengröße wird eine Lean Organisation ins Leben gerufen. Es werden dort Ziele und Vorgaben gemacht, meistens junge Kollegen/innen gesucht und dann mit der Aufgabe betraut, alles im Standard zu machen. Das, was darunter verstanden wird, ist die Vorgabe, und zwar auf Farbenebene, Hoch- oder Querformat des Blattes. Und auch das wiederum mit der Vorgabe, welche Kennzahlen denn zu verwenden sind, konsequent umzusetzen und umsetzen zu lassen. Alles im Namen des Lean Managements und - wenn es hart kommt - mit der Begründung: Toyota macht das so.

Und damit das Ganze auch nachhaltig wird: hier muss der PDCA von Deming herhalten, denn es wird natürlich streng nach Punktesystem auditiert und ge-benchmarked, damit auch alles seine Richtigkeit hat.

 

Ein paar Beispiele aus meiner selbst erlebten Erfahrung:

  1. In einem Motorenwerk gab es eine vollverkettete Produktionslinie, die immer die gleiche Variante produziert hat, seit Jahren. Und es gab keine Aktivitäten oder Erkenntnisse, dass sich daran etwas ändern wird. Im Rahmen der jährlichen Lean-Audits wurden in dieser Linie extra Rüst-Workshops gemacht, damit die volle Punktzahl beim Audit erreicht wird und das Werk im Benchmark-Vergleich gut abschneidet.
  2. In einem anderen Werk war nachweisbar an mehreren Maschinen ein cpk >= 1,33 und eine OEE >90% auf Tages-, Monats und Jahresebene nachgewiesen. Selbst gesehen und geprüft. Im Rahmen des Shopfloormanagement musste jede Schicht und jeden Tag über diese Maschinen berichtet werden. Dagegen hatte die Anlage andere Probleme, die dort nicht berichtet wurden, da der Shopfloormanagement Standard dieses nicht vorgesehen hat.
  3. In einem Werk, eingebunden in einer Konzernstruktur, wurde aus einer zentralen Stelle heraus festgelegt, welche Kennzahlen - sowohl die Ergebnis- wie auch die Prozesskennzahlen - zu nutzen sind, welches Papierformat wie aufgehängt werden darf und welches Farbmuster zu nutzen ist.
  4. In einer Gießerei wurde vehement durch die zentrale Lean Organisation die genaue Vorgabe gemacht, was Shopfloor Management ist und wie dieses auszusehen hat.
  5. Ein Konzern mit vielen Werken gibt vor, wie die Shopfloor Management Tafeln auszusehen haben, wie die Kaskade zu laufen hat und welche Kennzahlen zu verwenden sind.

 

Wie habe ich den Umgang mit einem solchen Missbrauch eines Standards erlebt?

  • Sanktionierung, Anklagen, persönliche Konsequenzen, Bloßstellen, Ansagen, Androhungen, …
  • komplette Ablehnung, offiziell alles machen, bloß nicht auffallen und innerlich kündigen
  • mit einem Schatten-Shopfloor Management, welches neben dem offiziellen gemacht wird, um ansatzweise besser zu werden
  • Aufwand, Zeit und nochmal Aufwand, bis zu der schlankesten Entscheidung, 1 Person für die Pflege des Shopfloor Managements freizustellen
  • es wird gemacht, immer "ja" sagen, nur das tun, was angewiesen wird, nicht nach- und mitdenken, …

Im Gesamten ist das nur ein Bruchteil an Verschwendungen, die aus einem falsch verstandenen Umgang mit Standards entstehen. Interessant wird es nur, wenn die Verantwortlichen gefragt werden, was denn diese Regel oder dieser Standard an Mehrwert für den Kunden oder das Unternehmen bietet? Welchen Vorteil hat das Unternehmen dadurch?

Ich habe bis heute keine nachvollziehbare Antwort erhalten. Es ist so. Punkt. Das ist der Standard.

In meinem Verständnis gibt es Regeln und Vorgaben und es gibt Standards. Leider ist in der QM/QS sehr häufig das Wort Standard im Zuge von Normen und Vorgaben genutzt. Um das klar zu schreiben: das sind VORGABEN und KEINE Standards. Eine Abweichung wird sanktioniert und hat Konsequenzen.

 

Was ist ein Standard:

Ein Standard beschreibt für mich eine Vorgehensweise, ein Prozess, eine Art der Arbeit, mit der ich reproduzierbar immer und unabhängig von Einflüssen das gleiche Ergebnis erreiche. Dieser Standard hilft dem Unternehmen und den Kunden, prozessfähig und nachvollziehbar wirtschaftlich zu produzieren. Wenn ich jetzt einen pfiffigeren Weg finde, eine noch cleverere Vorgehensweise, die den Prozess verbessert, dann muss ich das ausprobieren. Denn was ist das maximale Risiko? Ich lerne und kann immer wieder auf den alten Standard zurückgreifen, es gibt kein Risiko.

 

Wie kann aus einer zentralen Funktion mit Standards besser umgegangen werden?

Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen:

  1. In meiner alten Arbeitswelt war ich in einer zentralen Funktion tätig und sollte für alle Meister in diesem Konzern ein Training ausarbeiten und implementieren. Alle, das waren alle Werke in Deutschland, Brasilien, USA und weitere. Was habe ich gemacht? Ich habe als Zentralist erstmal alle Themen gesammelt, in meiner Hierarchie um Freigabe gebeten und gedacht: alles klar, der Standard steht. Tja, als erstes kam die Lean Organisation im Werk mit ihrem Standard um die Ecke, dann Mannheim, dann Kassel, dann Gaggenau, dann… Die Lösung war, dass wir eine Überschrift hatten, dass wir den Themen einen Rahmen gegeben haben und jedes Werk dort seine Beispiele und Vorgehensweisen darstellen durfte. Und natürlich waren nicht alle gleich, denn die Probleme, weshalb die Standards entstanden sind, waren ja auch nicht gleich. Die nächste Hürde war dann der Weg rüber nach USA. Die Zentrale kommt und zeigt mal, was Sache, was der Standard ist. Bei diesem Training war es das erste Mal, dass ich mit einem ehemaligen Toyotaner zusammen das Training gehalten habe. Am Abend vorher haben wir uns kennengelernt, synchronisiert und abgesprochen. Und auch dort habe ich die lokalen Gegebenheiten der einzelnen Länder in dem Standard vorher eingefügt und somit eine noch nie dagewesene Akzeptanz und Identifikation erreicht. Die Standards waren bunt und vielfältig, der Rahmen und die Richtung waren dagegen der eigentliche Standard.
  2. In einer Gießerei wurde über eine zentrale Funktion der gemeinsame Standard eines Mittelständlers vorgegeben. Die gesamte operative Führung hat sich verweigert und nur auf Befehl reagiert und umgesetzt. Meine Frage am Anfang der intensiven Woche war: Was ändert sich für den Fachbereich, wenn ich ihnen das Shopfloor Management wegnehme? NICHTS, absolut NICHTS. Die Einbindung und aktive Aufforderung an den Fachbereich, das Shopfloor Management so zu gestalten, dass nach 1 sec, die Abweichung zu erkennen ist, nach 3 sec. den IST-Wert und das Ziel, usw. (Quelle: COOS und Toyota). Damit wird das Board selbsterklärend. Es musste die Vorgabe erfüllt werden, dass es keine Vorbereitungszeit mehr gibt, die Daten und Erkenntnisse werden direkt aufgezeigt und eingetragen. Es hat ein paar Stunden gebraucht, um den Fachbereich herauszulocken, aktiv zu werden, Führung zu sehen, Verantwortung zu erleben. Das, was dann passiert ist, lässt sich schwer beschreiben, denn der Fachbereich hat die Idee aufgenommen. Sie haben gestaltet, sie wurden herausgefordert und mussten sich positionieren. Sie haben als Team ihr Board gestaltet. Es war ihr Board und es hat alle Prozess-Kennzahlen enthalten, die notwendig waren. Diese Prozess-Kennzahlen waren mit den Ergebnis-Kennzahlen verknüpft. Eine großartige Leistung. Die Kommentierung, nachdem das dem Werkleiter und der Zentrale vorgestellt wurde, war ernüchternd: Das ist nicht der Standard (Zentrale). Na super. Der Werkleiter, mit dem ich nebenbei auch gearbeitet habe, und er selbst erlebt hat, wie wirkungsfrei der alte Standard/Vorgabe war, hat sich positioniert und klargestellt, dass er seiner Mannschaft vertraut und sie ihre Vorgehensweise die nächsten 2 Wochen ausprobieren müssen, um zu lernen. Besser geht es nicht, denn innerhalb einer Woche wurde die neue Vorgehensweise auf alle Schichten und alle Führungsebenen umgesetzt und gelebt.

So was macht Freude zu erleben.

 

Zusammenfassung:

Ein Standard spiegelt die aktuelle beste Arbeitsweise wider und erzeugt ein gleichbleibendes Ergebnis. Wenn die Richtung und der Rahmen als Standard gesehen wird und die inhaltliche Ausgestaltung sich nach den lokalen Gegebenheiten richtet, dann hat diese Vorgehensweise einen sehr großen Vorteil: er ist sinnvoll, wird akzeptiert, lebt, wird genutzt und verbessert - und die Führung hat einen robusten Prozess.

 

Sie haben Fragen oder Anregungen, lassen Sie uns in einen Dialog kommen. Ich freue mich auf ihre Kontaktaufnahme.

Herzlichst Ihr Jochen Kleh.